Sonntag, 26. Juni 2016

Das glückliche innere Kind - Thay Phap Nhat

Kurt Heller/ pixelio.de


Manchmal haben wir ein Bild von uns selbst, in dem wir gefangen werden. Wir wissen nicht, wie wir uns von dem Bild befreien können. Vielleicht haben wir dieses Bild kreiert, als wir noch ein kleiner Junge oder ein kleines Mädchen waren, als wir mit unserer Familie zusammengelebt haben. Zu dieser Zeit wurden uns auch Wunden zugefügt, und deshalb gibt es in jedem von uns ein verletztes inneres Kind. Unser Lehrer lädt uns oft dazu ein, dieses verletzte innere Kind zu umarmen, um die Wunde in uns zu heilen, die in uns als fünfjähriges Kind zugefügt wurden. Ich sehe aber noch einen anderen Aspekt. Es ist richtig, dass wir zu unserem inneren Kind zurückkommen können, um uns um seine Wunden zu kümmern und uns mit ihm zu versöhnen. Wenn wir uns aber nur auf die Wunden fokussieren, dann werden wir vielleicht vergessen, dass es in jedem von uns neben dem verletzten inneren Kind auch ein glückliches inneres Kind gibt. Wenn wir geboren werden, ist unser Geist sehr rein.
Die Menschen um uns herum wollen uns gerne nahe sein. Wir alle kennen diese Situation: Wenn wir als Erwachsener ein Baby sehen, dann fühlen wir uns sofort zu ihm hingezogen. Denn die Energie, die ein kleines Kind ausstrahlt, ist sehr leicht. Wir waren selber einmal solch ein glückliches Kind. Viele Menschen wollten in unserer Nähe sein, um unsere Frische zu genießen. Aber wenn wir aufwachsen, dann verlieren wir allmählich dieses glückliche Kind. Meine Sichtweise auf das Leben ist diese: Ich nähre das glückliche innere Kind in mir. Ich brauche nicht mit dem verletzten inneren Kind zu kämpfen, denn wenn das glückliche Kind stark ist, wird sich das verletzte Kind automatisch transformieren, auf ganz natürliche Weise. Wenn wir immerzu mit unserem verletzten inneren Kind kämpfen, dann wird unser Geist gefangen in seinen Wunden.

Der Geist ist wie meine Hand, die einen Stift (die Wunden) in der Hand hält. Wenn meine Hand den Stift weiterhin festhält, kann sie während der Zeit nichts anderes Greifen. Auf diese Weise hält der Geist immerzu die Wunden fest, und er kann nie in Berührung mit dem glücklichen inneren Kind kommen. Deshalb muss die Grundlage der Meditation die Freiheit sein. Es ist nicht schwierig, das glückliche innere Kind zu nähren. Wir können uns eine Schale mit Salzwasser vorstellen. Das Salz ist unser Leiden. Die Schale ist unsere Kapazität, das Leiden zu tragen und mit ihm zu sein, und das Wasser ist unser Glück. Wir alle wollen glücklich sein. Wenn wir dieses Bild betrachten, dann können wir zwei Wege erkennen, wie wir glücklich sein können. Wir denken: Wenn kein Leiden da ist, dann sind wir glücklich. Deshalb versuchen viele Menschen, das Salz aus dem Wasser zu entfernen, sodass sie das Wasser trinken können. Es gibt sogar viele Meditationsmethoden, die uns dabei helfen wollen, genau dies zu tun. Ich sehe die Situation aber anders: Es gibt einen anderen Weg, die Situation in der Schale zu verändern: Zunächst müssen wir die Schale vergrößern. Dann gießen wir mehr Wasser, also Glück, dazu. Die Salzmenge bleibt dabei gleich.

Wenn unsere Schale klein ist, dann schmeckt das Wasser sehr salzig, sodass wir es gar nicht trinken können. Genauso ist unsere Situation: Wir können nicht glücklich sein, weil wir so viel Leiden haben. Wenn wir uns aber nicht durch unser Selbstbild begrenzen, sondern tiefer schauen, dann sehen wir, dass wir in Wirklichkeit viel größer und weiter sind, als wir dachten. Es ist mehr Raum in uns da. Auf diese Weise können wir die Schale auch als unser Selbstbild betrachten. Wir haben nun eine große Schale. Und dann nähren wir das glückliche innere Kind in unserem Alltag. Auf diese Weise fügen wir mehr Wasser hinzu. Das Salz ist immer noch da. Wir brauchen das Salz nicht zu entfernen, um glücklich zu sein. Doch jetzt ist die Schale so groß geworden, dass wir das Wasser daraus trinken und genießen können. Wir können sogar das Salz genießen. Wir sind gewachsen, wir sind freier und glücklicher geworden. Diesen Aspekt der Praxis mag ich wirklich gerne, und ich möchte dies mit allen Menschen teilen. Jetzt haben wir nicht nur eine Praxis, uns mit unserem verletzten inneren Kind zu versöhnen, sondern wir kennen auch einen Weg, das glückliche innere Kind zu nähren. Wir können dies sofort hier und jetzt praktizieren.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen