Mittwoch, 8. Juni 2016

Dein innerer Meister - Thay Phap Nhat

Eine Person, die Erleuchtung erlangt hat, nennen wir den „Erwachten“. Das bedeutet, dass diese Person wach ist. Wenn wir im Traum sind, werden die Dinge um uns herum nicht klar für uns erkennbar sein. Auch wenn wir aus dem Schlaf aufwachen, dann können wir unseren Traum oft nicht erinnern, weil die Dinge im Traum für uns nicht klar sind. Im Tagtraum ist es genauso. Wenn wir in unserem Leben leben, und die Dinge nicht klarsehen können, dann sind wir am träumen – obwohl wir wach sind. Wie können wir ein wirklich Erwachter werden, wie der Buddha? Den Buddha nennen wir den Erwachten. Die Silbe „buddh“ bedeutet „wach“ oder „erwacht“, und „Buddha“ bedeutet „der Erwachte“. Dieser Erwachte hatte den Namen „Gautama“. So hieß der Buddha – Gautama.

Weil ich kein Intellektueller bin, kein Gelehrter, habe ich nicht viel Wissen. Ich bin ein fauler Mönch – das weiß ich ganz genau. Ich weiß nicht, wie die rechte und die linke Gehirnhälfte funktionieren – vielleicht werde ich das noch eines Tages lernen. Aber ich weiß sehr genau, wie unser Bewusstsein funktioniert. Unser Bewusstsein ist ein sehr mächtiges Werkzeug. Wenn wir es gut kennen, dann können wir vieles erreichen, was wir uns in unserem Leben wünschen.

In der spirituellen Tradition gibt es zwei verschiedene Bezeichnungen für einen spirituellen Lehrer. Manche nennen wir einen Meister, und manche nennen wir einen Lehrer. Was ist der Unterschied zwischen einem Meister und einem Lehrer? Der Lehrer kann viel Wissen haben über viele verschiedene Dinge, und er kann diese Art von Wissen an uns weitergeben. Aber manche Dinge, von denen er weiß, hat er selber noch nicht erfahren. Der Meister hingegen, der selber die Erfahrungen macht, kann diese Art von Erfahrungen an uns weitergeben. Deshalb hören wir manchmal, wie einige spirituelle Lehrer als Meister bezeichnet werden, und andere als Lehrer. Woran können wir einen spirituellen Meister erkennen? Ein Meister ist jemand, der durch seine Worte unseren eigenen inneren Meister aufwecken kann, sodass wir selber auch zu einem Meister werden. Ein Lehrer kann nur sein Wissen an uns weitergeben, und wir müssen mit der Zeit immer mehr Wissen aufbauen. Später werden wir dann ein schweres Paket mit uns herumtragen, weil wir so viel Wissen angehäuft haben, das wir nicht verdauen können. Wissen ist wie ein Kuchen, der auf ein Blatt Papier gezeichnet wurde. Wir kennen ihn, wir sehen ihn, aber wir können ihn nicht schmecken. Er kann nicht zu unserem Blut, zu unserem Fleisch, zu unseren Zellen werden. Aber wir fühlen uns inspiriert, wir fühlen uns zufriedengestellt, wenn das Wissen erhalten haben. Der Meister überträgt uns nicht nur seine Worte, sondern auch eine Art von Energie. Wenn wir in der Nähe eines Meisters sind, dann spüren wir den Unterschied. Wir fühlen uns friedvoll, wir empfinden Mitgefühl und Liebe. Die Qualitäten der Nicht-Angst und des Selbstbewusstseins in uns werden gestärkt, wenn wir in der Nähe eines Meisters sind. Wenn wir Glück haben, werden wir einen Meister treffen. In der spirituellen Dimension ist es wichtig für uns, einen Meister zu haben. Wenn wir einen Meister treffen, dann wird unser eigener innerer Meister aufwachen. Wenn wir bereits zufrieden sind mit dem Wissen, dann werden wir schwer werden. Dann sind da viele Schichten des Wissens, die unsere Augen überdecken, unsere Augen der Einsicht. Und unser innerer Meister wird weiterhin schlafen.

Ich benutze oft ein Beispiel, um zwischen einem Meister und einem Lehrer zu unterscheiden. Beide sind gut, aber wenn wir uns in der spirituellen Dimension bewegen, dann sollten wir uns das Ziel setzen, eines Tages einen Meister zu treffen, sodass wir selbst auch eines Tages zu einem Meister werden können. Ich selber hatte das Glück, vielen Meistern zu begegnen. Manche von ihnen sind in der Welt nicht bekannt; sie leben in den hohen Bergen Vietnams, sie leben dort in Höhlen. Ich hatte die Gelegenheit, sie dort zu treffen, mit ihnen zu sprechen und nah bei ihnen zu sitzen. Und ich habe gespürt, dass ihre Energie sehr stark ist.


Der Teich und der Brunnen

Ich möchte ein Bild teilen, mit dessen Hilfe wir den Unterschied zwischen Meister und Lehrer verstehen können. Wir betrachten einen Teich und einen Brunnen. Wenn wir uns den Teich anschauen, dann sehen wir, dass er größer ist als der Brunnen. Von außen betrachtet sieht es aus, als ob in dem Teich sehr viel Wasser ist. Dieses Wasser in dem Teich ist wie das Wissen und der Teich ist wie ein Lehrer. Dieser Lehrer hat viel Wissen über unterschiedliche Felder des Lebens. Aber was wird mit dem Wasser im Teich passieren, wenn die Sonne hervorkommt und auf den Teich scheint? Das gesamte Wasser wird verdunsten. Und der Teich wird zu einem leeren Teich. Wenn wir immer mehr Wissen anhäufen über viele verschiedene Themen, und dann eines Tages einer schwierigen Situation, einem Problem in unserem Leben gegenüberstehen, dann wird uns unser Wissen nicht viel nützen. Und wenn die Menschen kommen, um das Wasser aus dem Teich zu schöpfen, und diese Menschen nutzen nur diese eine Wasserquelle, weil sie keine andere kennen, dann wird der Teich mit der Zeit Angst davor bekommen, eines Tages leer zu sein und kein Wasser mehr zu haben.

Der Brunnen hingegen ist wie ein Meister. Der Brunnen sieht klein aus, wenn man ihn von außen betrachtet. Auch in dem Brunnen ist Wasser, so wie in dem Teich. Aber der Teich hat Angst davor, dass die Menschen kommen könnten und das gesamte Wasser aus ihm schöpfen könnten, weil der Teich keine anderen Quellen kennt, aus denen er das Wasser beziehen könnte. Bei dem Brunnen ist das anders. Wenn die Menschen zu ihm kommen, um Wasser zu holen, dann wird der Brunnen sehr glücklich sein. Der Meister ist sehr glücklich, wenn die Menschen kommen und das Wasser nehmen, weil dann frisches Wasser von unten heraufkommt. Der Brunnen ist sehr tief und in der Erde verwurzelt. Der Teich sieht zwar sehr groß aus, aber er ist nicht so tief. Falls er doch so tief wird, dann wird er zu einem Brunnen, dann ist er kein Teich mehr. Und weil das Wasser aus dem Inneren des Brunnen selbst kommt, nennen wir dies „Einsicht“. Die Einsicht ist die innere Sicht, und wir nennen sie die Weisheit – sie ist nicht das Wissen. Die Weisheit ist die Kenntnis, die aus dem Inneren kommt; sie kann nicht von außen erworben werden. Bei einem Lehrer sprechen wir nicht von Weisheit, sondern von Wissen, weil dieses Wissen nicht aus ihm selbst herauskommt, sondern aus vielen verschiedenen Quellen angehäuft wurde.

Es gibt noch eine Besonderheit bei dem Brunnen: Er sieht zwar klein aus, aber er ist sehr tief. Und dort unten tief unter der Erde fließt vielleicht ein Fluss, ein unterirdischer Strom. Solch eine unterirdische Wasserquelle hat der Teich nicht. Und dieser unterirdische Strom ist durch viele weitere Flüsse mit dem großen Ozean verbunden. Der Brunnen sieht also klein aus, aber tatsächlich ist diese Wasserquelle sehr groß.

Aber wie können wir nun unseren eigenen Brunnen ausgraben und ihn sehr tief werden lassen, sodass wir unser eigenes Wasser daraus bekommen können? Nur solche Menschen, die diese Erfahrung selbst gemacht haben, können uns den Weg zeigen, wie wir tief graben und unser eigenes Wasser schöpfen können. Und was wird dann passieren, wenn wir erst einmal unser eigenes Wasser haben? Wir werden zu einem glücklichen Menschen, zu einem erfolgreichen Menschen. Wir werden zu einem weisen Menschen; wir können Dinge sehen, die die Leute um uns herum nicht sehen. Wir werden auch Dinge hören, die andere Menschen nicht hören können. Nicht etwa, weil sie keine Augen oder keine Ohren haben; sie haben Augen und Ohren. Aber sie können nicht sehen und nicht hören, weil sie in einem Tagtraum leben. Sie sehen nur das, was sie träumen. Sie können nichts anderes sehen.

Um unseren eigenen Brunnen tief auszugraben, müssen wir im ersten Schritt einfach wir selbst sein. Der Buddha war einfach, wie er war. Jesus Christus war, wie er war. All die Erleuchteten sind, wie sie sind. Deshalb sind sie erwacht und erleuchtet. All die erfolgreichen Menschen sind, wie sie sind. Also ist es sehr wichtig, wir selbst zu sein. Und dies ist auch der erste Schritt den wir tun können, um das zu erreichen, was wir uns in unserem Leben wünschen. Wenn wir die Gelegenheit haben, erfolgreiche Menschen zu treffen, die auch glücklich sind – es gibt auch erfolgreiche Menschen, die nicht glücklich sind, aber ich spreche hier von den erfolgreichen und zugleich glücklichen Menschen – dann können wir eine Gemeinsamkeit in allen diesen Menschen sehen: Sie sind sie selbst; sie sind so, wie sie eben sind.

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